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Angelika Colditz - Silbermaus


Silbermaus

 

 

Ich warte. Nicht so direkt, aber doch irgendwie schon. Freilich gehe ich meiner Wege, mal ziehe ich kleinere, mal größere Kreise. Aber wirklich gehe ich nicht. Etwas lässt mich immer wieder an einen ganz bestimmten Platz zurückkehren. Genauer, zu einem ganz bestimmten Mauseloch. Jenem Loch, aus dem du an einem späten Oktobertage einfach so herausspaziert kamst. Du: nicht grau, sondern silber. Listiger als alle Mäuse, die ich jemals fing. Dein unwiderstehlicher Duft faszinierte mich und noch immer spüre ich ihn in meiner empfindsamen Nase. Du warst zu kostbar zum Fressen.

 

Du spaziertest direkt in mein Leben hinein und ich meinte, du tatest gar so, als wärest du eine Katze. Eine Maus mit einer Katzenseele. So verführerisch fein, so zart, so zerbrechlich und sehr schlau.

Meine Krallen musste ich verstecken vor dir, mit sanften Pfötchen durfte ich dich berühren. Eigentlich indes hast du mich berührt. Auf mystische Weise warst du mir derart vertraut, als sei ich früher selbst einmal eine Maus gewesen.

 

Aber ich bin eine Katze. Leider wurde ich als kleines Kätzchen aus der gewöhnlichen Ordnung verwiesen und fürchte nun meine Artgenossen. Vor den unvermeidlichen, nie enden wollenden Revierkämpfen schrecke ich zurück. Ich bin in den Wald geflüchtet.

 

Anders bei dir, Maus mit Katzenseele. Bei dir meine ich, dass meine scharfen Krallen dich jederzeit packen könnten.  Meine Zähne könnten dich verletzen. Ich könnte dich verspeisen. Aber ich begehre dein zartes Wesen so sehr,  dass ich meinen Hunger auf dich verberge. Statt dessen lechze ich danach, meine Seele durch dich zum Klingen zu bringen. Ich will mit dir spielen, so oft und so lange wie möglich.

 

Klar, leugnen lässt es sich nicht, ich bin ein Raubtier. Ich sitze auf dem Sprung, meine Muskeln vibrieren. In meiner Vorstellung spüre ich sehr wohl, wie meine Zähne in dein zartes Fleisch dringen. Dann wärest du verloren. Ich könnte dich töten, doch ich halte mich zurück. Ich will dieses süße Spiel genießen, süßer als alle Spiele jemals, denn du bist etwas Besonderes.

 

Jedoch: du weichst zurück, versteckst dich. Spürst wohl die verhaltene Kraft, das unterdrückte Verlangen. Vernimmst wohl die Spannung in meinem Körper, das geschmeidige Wischen meiner Schwanzspitze auf der Erde, erkennst das begehrliche Glitzern in meinen Augen.

 

Ich lauere. Geduld, Geduld. Der Einsatz lohnt sich. Hat sich tausendmal bewährt. So doch auch jetzt bei dir, Silbermaus.

Aber diesmal ist alles anders. Ich möchte deine Seele verschlingen, als könnte ich meine damit heilen.

 

Ich miaue mit sanfter Stimme und schnurre lange, um dich und mich zu beruhigen. Gleichzeitig steigt meine Begierde auf dich, je länger ich warten muss. Aber ich bin eine geübte Jägerin, bleibe achtsam. Ich erspüre jede noch so leise Bewegung in deinen Gängen und wittere jeden Hauch deines Duftes. Ich will dich umso mehr, so du dich mir entziehst.

 

Du bist unschlüssig. Das fühle ich. Auch du bist von Sehnsucht getrieben. Kommst näher. Entfernst dich wieder. Wieder und wieder. Wieder und wieder. Ich warte. Warte. Warte. Und möchte meinen Seelenhunger stillen.

 

Ich bleibe chancenlos. Du bist schlauer als andere Mäuse. Es ist jenes Detail, dass dich für mich so begehrenswert macht, und gleichzeitig jenes, das mich in die Niederlage zwingt. Aber ich gebe nicht auf. Noch nicht. Meine Erfolglosigkeit macht dich umso interessanter für mich.

Doch wie stille ich einstweilen meinen Hunger? Ich fühle mich allein. Es regnet. Es wird kalt. Meine Pfoten schmerzen. Die Seele auch. Vor Sehnsucht nach dir, du herrliche, unerreichbare Silbermaus.

 

Von hinten nähert sich etwas. Ein Tier. Ein Hund.

Normalerweise mag ich Hunde nicht, sie sind mir zu aufdringlich, zu anhänglich, zu unterwürfig. Sie bellen zu viel und zu laut. Sie schlingen beim Fressen und scheinen kein Gefühl dafür zu haben, wann sie satt sind.

Aber ich bin allein, ich bin hungrig, es ist kalt, ich habe Sehnsucht, die Pfoten tun mir weh und meine Seele schmerzt.

Willkommen Hund.

 

Du näherst dich, wie es Hunde eben tun. Zu schnell, zu plump, zu anbiedernd. Ich zögere, spüre Unbehagen, feine Schauer laufen durch mein Nackenfell. Ich ignoriere es, denn ich bin erschöpft und sehne mich nach Erlösung aus meiner Muskelspannung. Ich folge dir.

 

Kann ich so tun als wäre ich ein Hund? Vielleicht so wie du, Silbermaus, getan hast, als wärest du eine Katze?

 

Ich folge dir, Hund, auf deinen Hof und lege mich in deine Hütte, als wäre sie meine.

Du kuschelst dich an mich, dein weiches Hundefell ist schön warm. Das tut mir gut. Ich schnurre. Meine schmerzenden Pfoten finden Ruhe neben dir. Es ist behaglich. Du hechelst an meinem Ohr. Du riechst nach Hund. Ich versuche, beides zu ignorieren. Schlafe endlich ein.

 

Bei Tage beobachte ich: deine Menschen erscheinen auf dem Hof. Immer springst du auf, rennst um sie herum, springst an ihnen hoch, hechelst, wedelst den Schwanz, bellst, wedelst, bellst, wedelst. Warum tust du das?  Endlich befehlen sie dir, dass du aufhören sollst. Warum hörst du nicht von alleine auf? Sie werfen einen Gegenstand weit von sich und du springst hinterher und bringst ihn wieder zurück. Sie werfen ihn erneut und du holst ihn. Wieder und wieder. Wozu? Sie loben dich, wenn du machst, was sie wollen. Sie geben dir Befehle, du gehorchst. Du bist stolz darauf, dass du so gut gehorchen kannst. Heimlich fühlst du dich besser als die Menschen, denen du dienst. Du glaubst, ohne deine Kunststücke seien sie verloren.  Dabei läufst du doch nur im Kreis um sie herum. Merkst du es nicht?

 

Eine echte Beute kannst du auch nicht erjagen. Dafür fehlt dir die Geduld und das Können. Du machst dabei einen solchen Lärm, so dass jedes Beutetier wegläuft. Aber es scheint dich nicht zu stören. Hauptsache, Napf und Lob sind übervoll.

 

Du möchtest, dass ich auch aus deinem Napf fresse. Ich soll mögen, was du magst.

Allein der Napf ist viel zu groß für mich. Die Knochen stinken. Ich fresse kein Aas. Aus Gefälligkeit nehme ich ein paar winzige Häppchen, kaue angewidert darauf herum.

 

Du bist ratlos, weil ich deine Gaben nicht zu schätzen weiß. Ich nehme noch einen Bissen, doch er bleibt mir im Hals stecken. Heimlich würge ich ihn wieder aus. Ich mache einen Bogen um die riesige Schüssel. Gerne würde ich heimlich jagen gehen, aber ich traue mich nicht, will dich nicht ent-täuschen.

 

Ich pflege statt dessen mein Fell. Du kommst hinzu und hilfst dabei, mein Fell zu pflegen. Das rührt mich, auch wenn dir dazu die Geschicklichkeit fehlt. Es fühlt sich nass an. Wie alles bei dir – zu viel des Guten. Dennoch bleibe ich liegen. Aber mich schaudert, als der Wind über meine sonst seidigen, jetzt nassen Haare streicht. Nun haftet mir Hundgeruch an. Ich fühle mich unwohl. Möchte weg. Wenigstens ein bisschen.

 

Sobald ich mich entferne, folgst du mir. Das macht mich nervös.

Ich klettere auf einen Zaun und merke, wie es dich traurig macht. Ich springe bald wieder herunter, weil ich nicht möchte, dass du traurig bist. Ich soll zufrieden sein und schrecke vor dieser Zufriedenheit zurück. Mich schüttelt. Ich fliehe auf eine Mauer, atme erleichtert durch.

 

Du wartest geduldig mit deinen treuen, lieben Hundeaugen. Ich spüre die Unruhe in dir. Schließlich springe ich erneut herunter, lege mich wieder in deine Hundehütte. Du kommst hinzu. Unbeholfen leckst du an meinem Fell, haftest mir erneut deinen nassen Hundgeruch an. Ich soll schnurren. Aber es geht nicht. Es schnurrt einfach nicht. Meine Haare sträuben sich. Umso mehr, wie ich es zu unterdrücken suche.

 

Immer unerträglicher werden mir die Nächte in der Hundgeruch-Hütte, das Leben neben dem stinkenden Futternapf, der mich mehr und mehr abstößt.

 

Heimlich spitze ich die Ohren, strecke meine Nase hinaus in den Sternenhimmel. Die Geräusche und Gerüche der Nacht lassen mich wohlig erschauern. Ich möchte wieder frei sein.  Mein Fell vibriert. Meine Muskeln spielen. Mir wird eng zu Mute. Doch die Nacht ist weit. Und irgendwo da draußen: ach, Silbermaus.

 

Leb wohl Hund. Lebt wohl, liebevolle Hundeaugen, denen ich jetzt entkommen möchte. Leb wohl, weiches Hundefell, ich ertrage es nicht.

 

Mit einem großen, federnden Sprung setze ich am Morgen über die Mauer, jage über die Wiese und spurte auf den Apfelbaum.

 

Erst von dort aus blicke ich zurück.

Du bist aufgesprungen. Ich gewahre deinen ungläubigen Blick, in dem sich die Erkenntnis dessen ausbreitet, was ich beabsichtige.

Du beginnst, wie wild im Hof herum zu laufen, mich fest im Visier.

Du setzt an, laut zu bellen, lange. Dann jaulst du. Eindringlich! Schließlich winselst du. Ich empfinde deinen Schmerz durch jede Faser mit. Aber ich halte aus.

 

Sodann springst du gegen das Gartentor, bis es bricht. Willst die Grenze zwischen uns einreißen, den Abstand wieder verringern. Doch bin ich auf dem Baum unerreichbar für dich. Du richtest dich am Stamm hoch auf. Immer wieder. Deine Pfoten suchen nach Halt. Bellst, bellst, bellst. Komm herunter! Komm zurück!

 

Schließlich legst du dich auf den Rücken, zeigst mir deinen verletzlichen Bauch. Mein Herz weint aber meine Seele möchte fliegen.

 

Du tust mir leid, ich tue mir leid. Wir haben beide recht.

Ich habe keinen Trost für dich und mache den nächsten Schritt. Den endgültigen. Unmissverständlichen. Ich fauche, als ich den Baum verlasse. Fahre die Krallen aus, hebe drohend die Pfote, als du mir folgen willst. Deine Augen weiten sich und du verstehst. Du klemmst winselnd deinen Schwanz ein, bleibst zurück.

 

Deine Menschen kommen endlich, sie sind auf dich aufmerksam geworden. Ich wünsche dir, dass sie dich trösten, wie du es brauchst.

 

Langgestreckt spurte ich in den dichten Wald, verschwinde im Gebüsch, verstecke mich, atme tief durch. Endlich. Waldbodengeruch. Mein Herz pocht wie verrückt. Drehe mich um, fauche noch ein paar Mal, nur zur Sicherheit.

 

Ich muss zurück an jene Stelle, an der alles begann.

Ach, Silbermaus.

Noch immer verspüre ich deinen Duft und möchte dich schmecken, als hätte ich dich erst gestern gekostet. Ach komm doch. Komm endlich. Ich spüre dich noch nahe und doch so fern. Meine Pfoten glühen. Nur noch ein letztes Weilchen.

Bald jährt sich die Zeit, seit wir uns trafen.

 

Am Boden schnuppernd laufe im Kreis um das Loch herum. Wieder und wieder.

 

„Hahaha...“ vernehme ich plötzlich ein krächzendes Lachen direkt über mir. Erschrocken zucke ich zusammen und drehe mich vorsichtig um. Eine Eule! Sie beäugt mich.

 

Wie versteinert ducke ich mich und kauere am Boden.

 

„Hahaha...“ krächzt sie noch einmal. „Ich beobachte dich schon lange. Du hast das gesamte Frühjahr hier wartend zugebracht. Und jetzt bist du wieder hier. Ich weiß, worauf du wartest.“

 

„....auf Silbermaus....“, hauche ich, „hast du sie gesehen?“

 

„Es spielt keine Rolle, ob ich sie gesehen habe. Ich sehe dich, und das, was du hier tust. Es jährt sich bald, nicht wahr?“

 

„......ja.......“

„Du willst ihre Seele, nicht wahr? Du glaubst, wenn du ihre Seele verschlängest, dass sie sodann deine Eigene erfüllte, habe ich recht?“

Mitleidig schienen mich die großen gelben Eulenaugen zu umfangen.

 

„....ich...ich...hoffe darauf.....“, flüstere ich und drücke mich noch fester gegen den Boden.

 

„Hahaha!“ krächzt Eule erneut. „Nicht, dass du mich falsch verstehst, kleine Katze: Ich lache dich nicht aus. Jedes Tier kann sich auch irren. Aber ich glaube, nein ich bin sicher, dass du die Seele an der falschen Stelle wähnst.“

 

Schweigen.

Ich warte.

 

Nach einer langen Zeit spricht Eule weiter, jedes ihrer Worte genau wählend.

„Silbermaus scheint dir unabhängig, weil sie dich nicht braucht. Hund wiederum scheint von dir zu glauben, du seiest unabhängig, weil du ihn nicht brauchst...

 

...Und?

Bist du es?“

 

„.....mmmh, nein.“

 

„Du bist es nicht. Keiner ist es. Silbermaus genauso wenig. Auch ihre Seele ist manchmal voller Sehnsucht und Schmerz. Freilich auf eine gänzlich andere Art als deine.“

 

Ich sage gar nichts. Ach, Silbermaus.

 

Ich warte. Nur meine Ohren vibrieren, damit ihnen kein wichtiges Wort entgeht.

 

„Du hast dich über Hund insgeheim lustig gemacht, weil er aus deiner Sicht nur im Kreis herum läuft: Um seinen Napf, seine Menschen, vielleicht auch um dich, Katze, von der er sich etwas versprach, das er selber nicht besitzt. Er fühlt sich an seine Menschen, seinen Hof gebunden. Er hat einen Ort, den er als seine Heimat empfindet.

Jetzt frage ich dich: Wo bist du zu Hause?“

 

„......ich...ich...halte es an einem einzigen Ort nicht lange aus. Ich bin eine freilebende Katze! Vielleicht bin ich überall und nirgends zu Hause“, füge ich traurig hinzu.

 

„Überall und nirgends? Eine freilebende Katze – bist du wirklich so frei? Was bindet dich dann fast ein Jahr an dieses Mausloch?“

 

Ich antworte nicht. Spüre diesem Gedanken nach.

 

„Was wäre, wenn Silbermaus jetzt in diesem Augenblick heraus käme?“ höre ich Eule weiter fragen. „Fändest du bei ihr dein Zuhause? Wirklich? Bei einer Maus? Was ist mit dem Mausgeruch? Und das Wichtigste: Was geschähe, wenn du sie endlich fräßest? Was erwartet dich danach?“

 

Dann, ja dann wäre ich Muttervaterseelenallein.

 

Schließlich bringe ich heraus: „Und was nun?“

 

Eule sitzt lange auf ihrem Ast, ohne etwas zu sagen. Schließlich bekomme ich zu hören:

„Du musst die Ordnungen der Natur anerkennen. Es fällt dir leicht, dich insgeheim über Hund zu erheben. Der Hund gehorcht seiner Hundenatur und findet darin eine innere Sicherheit, die dir jedoch fehlt. Frage dich, warum du ihm gefolgt bist!

Umgekehrt erspürte Hund in dir deine Möglichkeit zur Freiheit, die er selbst jedoch fürchten muss.

 

Du hingegen betest eine Maus an. Sie dünkt dir ungefährlich. Ungefährlicher als was?“

 

Ich kneife die Augen zu. Mein Fell sträubt sich im Nacken.

 

„Ferner wähnst du, Silbermaus’ Unschlüssigkeit zu spüren. Trotz ihrer Unschlüssigkeit wählt sie allerdings ihre eigenen Wege. Sie besitzt damit auch etwas, das dir fehlt. Sie kennt ihre Sehnsüchte, aber auch die Gefahr und entscheidet sich klug.“

 

Ich schweige. Eules Worte durchdringen mich.

 

„Du bist eine Katze!

Möchtest auch deiner Wege gehen und nicht eingeengt auf Hütte und Napf bleiben. Das verstehe ich. Es ist jedoch deine Unschlüssigkeit, die dich im Kreis laufen lässt. Unschlüssig deshalb, weil dir dazu die Gebundenheit fehlt, so dass dir dein Dasein wie "überall und nirgends" vorkommen muss. Das macht Angst. Du spürst es ja: Weil du natürliche Ordnungen von dir weist, läufst du nun Gefahr, selbst verloren zu gehen und suchst nach Halt.

Du glaubst, wenn du Silbermaus fräßest, könntest du deine Sehnsüchte stillen. Ich kann dir jedoch sagen, dass Sehnsüchte niemals still sind. Es ist Silbermaus’ Klugheit, die dich fasziniert. Silbermaus ist klug genug, anzuerkennen, dass sie natürliche Strukturen und Spannungen nicht aufzuheben vermag.

Hier liegt auch deine Chance, kleine Katze. Deine Chance liegt in dieser Erkenntnis: Aus ihr entsteht dein Plan.“

 

„Welcher Plan?“ will ich gerade fragen, doch plötzlich breitet Eule ihre Schwingen aus und bevor ich die Frage aller Fragen stellen kann, gleitet sie davon und verschwindet hinter den Tannen.

 

„Und vergiss es nie: Du bist eine Katze!“

flüstert es als letzte Botschaft aus dem Wald.

 

Ich fühle mich noch kleiner geworden unter diesen großen Worten. "Mein Plan, mein Plan" klingt es in mir nach.

 

„Katze“ rauscht es im Wind.

 

Dunkel ist es. Die Nacht senkt sich herab. Von der Wiese her zieht Nebel herüber. Ein kalter Wind streift mein Fell.  Die Geräusche des Waldes erheben ihre Stimme. Ich sitze noch immer wie versteinert und lege meinen Schwanz noch enger um meinen Körper.

"Plan, Plan..." rauscht es in meinem Kopf,"...Katze,...Ordnung."

 

Mein Blick wandert zum Mausloch. Leer ist es dort. Silbermaus’ Duft verliert sich.

Statt dessen erfühle ich den kalten Hauch des kleinen Baches in unmittelbarer Nähe. Der Bach rauscht. Singt sein ewiges, immer gleichwährendes Lied. Woher kommt er? Wo fließt er hin?

 

"Ordnung", denke ich. "Folgt der Bach einer Ordnung?"

Wahrscheinlich. Er entspringt dem ewigen Wasser und dorthin kehrt er wieder zurück. Das war schon immer so. Das Wasser wird fließen, aus der Ewigkeit, in die Ewigkeit.

 

Das gleichmäßige Rauschen wirkt beruhigend auf meine aufgewühlte Seele. Ich entspanne mich etwas. „Miau“ entfährt es mir unvermittelt, als wäre ich noch ein kleines Kätzchen. „Miau, miau....“ höre ich meine eigene Stimme. Klingt sie klein in dieser großen Unendlichkeit?

 

„Miau! Ich bin eine Katze!“

 

Eine Katze inmitten dieses unendlichen Kreislaufes! Plötzlich erahne ich meine eigene Kleinheit. Nur eine kleine Katze inmitten dieser großen Ordnung bin ich! Ein Miau. Es klingt an – und verklingt wieder. Abertausende Katzen, Hunde, Mäuse, auch Silbermäuse....ja, und auch Eulen waren bereits hier – und sind wieder verklungen. Nur ein Flügelschlag, gemessen an der Ewigkeit.

 

„Miau.“

 

„Miau!!!!!“  Energisch setze ich meine Stimme dagegen.

 

Ich springe auf, laufe zum Bachufer, erspüre bewusst den Waldboden unter meinen Pfoten. Er ist weich. Direkt vor mir umspült das Wasser sanft den Saum. Wie von selbst beginnen meine Vorderpfoten gegen den federnden Waldboden zu treteln, als wäre er die frühe Mutterbrust. Aus mir heraus schnurrt es tröstlich. Sogleich fühle ich mich etwas leichter; ein Teil der Umgebung, willkommener.

 

Meine Ohren vibrieren zur Melodie des Baches, während ich mich selbst schnurrend und den Boden bearbeitend mit in sie einfüge.

 

„Miau!“, sage ich zuversichtlich.

 

Vom langen Treteln und Schnurren bin ich müde geworden. Endlich finde ich in meinem Entschluss, Silbermaus zu verlassen, die nötige Ruhe, um neue Kraft zu schöpfen. Ich rolle mich zusammen und mein Kopf ruht auf würzigem Moos. Ich schlummere hinweg.

 

Im Traum erkunde ich den Boden eines alten Schuppens, der, voller Gerümpel, mir seltsam vertraut ist. Ich steige darauf herum und inspiziere die uralten, zu nichts brauchbaren Sachen. Doch was ist das?

 

Ganz unten am Boden, direkt im Staub liegend, entdecke ich plötzlich ein winzig kleines Kätzchen. Es regt sich nicht, aber es lebt. Mit dem Maul nehme ich es hoch. Es ist so zart, verletzlich und ungeschützt, dass ich erkenne: dieses Kätzchen ist ein Neugeborenes!

Ich bin überrascht über diesen Fund und beglückt zugleich. Ganz vorsichtig und sanft trage ich es an ein ruhiges Plätzchen und lege es ins weiche Heu. Liebevoll beginnt meine erwachsene, heilende Zunge den winzigen Körper zu pflegen. Lebe, kleines Katzenbaby, lebe. Atme. Schnurre.

 

Als ich aus dem Traum erwache, hallen seine Bilder noch in mir nach.

Finde ich die Zartheit, das Weiche, die Sanftheit, die Hingabe, die ich an Silbermaus so liebe und ersehne, vielleicht auch in mir? Ist dieses noch schutzlose Katzenbaby, das unter dem uralten Gerümpel verschüttet war, vielleicht gar eine neugeborene Seele in mir? Der Gedanke beglückt mich. Mir wird ganz warm zu Mute. Mein Schwanz vibriert und schaut ganz lustig aus.

 

Neugierde ergreift mich.

Hoffnung.

Ich möchte zurückkehren zu meinen Artgenossen. Vielleicht gelingt es, noch viele Pfotenabdrücke hinterlassen. In ihren Herzen.

 

Leb wohl, Silbermaus.