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Angelika Colditz - Kampf der Embryonen


Kampf der Embryonen

Ode an eine Zwillingsschwester

 

 

Sie tanzt oft aus der Reihe. Will gleichwohl Jenes, das aus der Reihe tanzt, in ihre Reihe zwingen. Ihre Zerstörungswut richtet sich auf alles, was sich ihren Vorstellungen entzieht. Sie fordert Raum, frisst, absorbiert, zerstört, vernichtet. Der Hund ist scharf. Er beißt sich fest. Würde er töten - so man ihn ließe?

 

Sie betritt einen Grenzbereich, der sie mit gewaltigen dunklen Kräften in Kontakt treten lässt. Er zieht sie in seinen Bann, wie ein Magnet. Dennoch: Es entsteht kein Hurrikan.

 

Ihre Gedanken werden nicht absorbiert, sie sind stark. Scharfsinnig erkunden sie den Kern des Bösen. Energisch entschlüsseln sie die Botschaft der zerstörerischen Neuronen. Entschlossen knacken sie den Code, brechen ihn auf und entnehmen seinen Inhalt.

 

Es zeigt sich ein Inhalt, wie er den Naturgesetzen unterworfen ist: Das Stärkere setzt sich auf Kosten des Schwächeren durch.

Und doch trifft den Embryo keine Schuld, wenn er, um das eigene Überleben ringend, jenes der kranken Schwester auslöscht. Wenn es eine Gewinnerin und eine Besiegte gab.

 

Aber die Überlebende zahlt einen bitteren Preis. Wer kein Leben neben sich duldet, bleibt nicht nur allein, sondern es ereilt sie, was sie herbeigeführt. Von nun an muss sie mit der Fratze des Todes ihren Raum teilen. Untrennbar haftet er sich ihr an und wird sie begleiten. Er nimmt den Platz Jener ein, die nicht sein durfte.

 

Sehr wahrscheinlich hätte sie es auch nie gekonnt. Aber das sprachlose Entsetzen brannte sich ins neuronale Gedächtnis. Angst und Leere bleiben erhalten. Ihr Zwilling fehlt. Ihr fehlt ihr zweiter Teil.

Statt dessen muss sie selbst als Zwei leben - sie und ihre "Tat" – und gleichzeitig halbiert.

 

Freilich kann nicht von Verantwortung gesprochen werden. Aber das Fress-Schema ist aktiviert. Wer ihr zu nahe tritt, kommt mit Grenzbereichen in Berührung - und nimmt sich in Acht.

 

Nun drängt es sie verzweifelt, die Verschlüsselung zu dekodieren und den Stimulus endlich aufzuheben. Dieser Schlüssel wurde AUCH mit in die Wiege gelegt - eine kalte Wiege. Eine einsame Wiege und ein Weg voller Entbehrungen. Noch braucht sie ihre Matrix, um sich zu schützen und zu verteidigen. Gejagt durch ihre Angst vor Angreifern, wie es ihrem Wesen und der vermeintlichen Gerechtigkeit entspräche.

 

Doch muss sie denn ihre Freunde bezwingen und ihnen Abstand gebieten? Oder muss ihre Freunde schützen, um nicht von ihr selbst gelähmt und absorbiert zu werden? Das Programm lädt sich weiterhin auf. Es enthält einen gravierenden Fehler.

Aber war er falsch?

 

Das Leben tut, was es muss. Reicht es nicht für Beide, muss Eines weichen. Das Übrige wird schuldig, so es in der Lage ist, dies zu empfinden.

 

Aber ihre Gedanken sind mutig! Sie berühren das zerstörerische Gen, nehmen Verbindung auf. Sie öffnen es. Ihre Gedanken sind groß. Sie entnehmen den Kern. Und ihre Tränen entladen das gereizte Gen endlich auf ein erträgliches Maß.

 

Ihre Gefühle sind klug. Sie erkunden die Spuren zweier Embryonen, deren einer kümmerte, was im anderen den Vernichtungsdrang aktivierte. Die Gefahr ging auf Kosten Beider. Sie war ansteckend, ein krankendes Geschwür, das die gemeinsame Existenz bedrohte.

 

Zu einem solch frühen Zeitpunkt gab es noch keinen Hilfeplan. Auch kein Mittel, um das Leiden zusammen durchzustehen. Es gab nur ein erstes primitives Programm, das den eigenen Schutz sicherstellt. Im Ursprung gibt es noch keine Gnade und auch keine Zeit für Aufschub. Wer sich vor dem Vernichtenden retten will, muss selbst zum Vernichter werden.

 

Dennoch bleibt der Eindruck dessen, was am Beginn geschah, vorhanden. Ein Klumpen ohne Leben, ein Umriss ohne Inhalt als Zeitzeuge allen Werdens und Vergehens.

 

„Verzeih mir, Schwester. Es tut mir leid." sagt sie 32 Jahre später.

 Und die Schwester antwortet: „Lass es ruhen. Lebe und mache es gut! Das ist alles, was du tun kannst. Die Wunde zwischen uns ist schon längst verheilt.“