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Angelika Colditz - Das Fremde über Mosaikstadt


Wertvollen Dank

Prof. Dr. J. Arnold  für Lektorat und Korrektur.

1. Einleitung

2. Das Phänomen

3. Zwischen Furcht und Trost

4. Der Plan

5. Widerstand

6. Licht im Dunkel

7. Die Vereinigung

 

 Einleitung

 

Durch traumatische Erlebnisse in frühester Kindheit ist Ninas Persönlichkeit in viele einzelne Fragmente zersplittert. Trotzdem ist es der kreativen Nina gelungen, aus der Not eine Tugend zu machen. Sie erschuf ihre Persönlichkeit als kunterbunte Mosaikstadt neu, deren Teil sie nun ist. Die Mosaikstädter sind stolz darauf, sich von gewöhnlichen Städten so deutlich zu unterscheiden. Insbesondere Herr und Frau Bürgermeister haben mit ihrer Stadt noch große Pläne!

Gäbe es da nicht auch das Unheimliche, das sich in der uralten Burg personifiziert. Das Fremde, dessen Existenz jeder spürt, jeder fürchtet aber doch keiner kennt.

Das Bürgermeisterpaar verfolgt schließlich nur noch ein Ziel: Sie wollen ihre Stadt von der immerwährenden Bedrohung befreien und das unheimliche Fremde endlich ausmerzen.

 

 

 

Das Phänomen

 

Die Bedrohung ist allgegenwärtig. Wie ein Fluch liegt sie über der sonst so fröhlichen Stadt. Wie ein Mahnmal mit erhobenem Zeigefinger scheint das uralte Burggemäuer das Leben der Mosaikstädter permanent zu überwachen.

Aus seinen schwarzen Fensterlöchern blickt der Geist der Vergangenheit, der sein dunkles Geheimnis vor neugierigen Blicken in seinen Tiefen fest im Griff hat.

 

Die Städter meiden die Burg. Sie jagt ihnen Angst ein. Kein richtiger Weg führt deshalb zu ihr. Die Menschen wählen einen Umweg, weil sie noch nicht einmal versehentlich in ihre Nähe geraten wollen.

Eltern nehmen ihre Kinder an die Hand und leinen ihre Hunde an. Sie laufen schnellen Schrittes, sobald der dunkle Klotz in Sichtweite kommt. Besonders ängstliche Leute halten sogar ihren Kindern die Augen zu und wenden selbst das Gesicht ab. Es wird gemunkelt, wenn man zu lange auf die Burg blicke, dann gerate man in ihren Bann und es zöge einen selbst in sie hinein. In sie hinein: ins Verderben.

 

Ins Verderben: wie das Schicksal des Gefangenen, das als düsteres Geheimnis über der gesamten Stadtgeschichte

schweben soll.

Es heißt, jener Gefangene friste sein Dasein sogar noch heute im Burgverlies! Eingemauert in einem Kerker soll er hausen und nur ein winziger Spalt im Mauerwerk soll seine Verbindung zur Außenwelt zulassen.

 

Aber kann man sich das wirklich vorstellen? Oder befeuert nur die Fantasie die Gemüter der Bürger? Oder hat das unheimliche Phänomen seinen Ursprung etwa doch in der Wirklichkeit?

 

Niemand vermag sich an Details zu erinnern, die eine solche Existenz bestätigen könnten. Einige meinen allerdings, man könne auf ungute Weise seine Anwesenheit spüren.

Dennoch: keinen hat es bislang je gelüstet, mehr über ihn zu erfahren.

 

Man könnte ja der Wahrheit auch einfach auf den Grund gehen. Eine Gruppe Bürger könnte etwa bis zum Verlies hinabsteigen, es endlich öffnen und somit Licht ins Dunkel bringen.

Vielleicht löste sich sodann der ganze Spuk in Nichts auf?

Aber - wenn doch nicht?

 

Angeblich – so die Überlieferung – laste ein schwerer Fluch über dem Schicksal des Gefangenen. Der Fluch besagt, dass der Verurteilte um jeden Preis bis an sein natürliches Lebensende im Verlies verbleiben muss – und zwar ohne jemals wieder irgendeinen Kontakt zu irgendeiner Menschenseele haben zu dürfen!

Wer es wage, sich dieser Anordnung zu wiedersetzen, würde durch sein Tun eine Dynamik ungeahnten Ausmaßes in Gang setzen, die sogar den Tod der gesamten Stadt zur Folge haben könnte.

 

Nun mag keiner der Mosaikstädter hierfür der Auslöser

sein.

 

Letztlich schrecken auch die Mutigen vor ihrer eigenen Courage doch zurück. Statt dessen ranken sich vielfältigste Vorstellungen rund um das Phänomen. Wer, falls es ihn wirklich gibt, ist der unheimliche Fremde früher einmal gewesen? Auf welchem Geschehen fußt überhaupt seine Verurteilung? Womit wird er seine grausige Strafe provoziert haben?

 

Im stillen Einvernehmen hat man sich längst an die immerwährende Anwesenheit der Beklemmung gewöhnt. Die Städter gehen ihrem alltäglichen Tagwerk nach. Gar nicht selten allerdings ertappen sie sich dabei, wie sie unwillkürlich den Kopf einziehen, sobald ihnen einmal wieder die Burg ins Blickfeld gelangt.

Vielleicht ist sogar dies der Grund, weshalb die Häuser der Mosaikstädter bunter sind als die Häuser gewöhnlicher Städte? Vielleicht feiern die Mosaikstädter deshalb ihre Feste besonders fröhlich und gestalten ihr

Zusammenleben besonders intensiv? Vielleicht wollen sie dem Bedrohlichen etwas Fröhliches entgegensetzen?

Vielleicht leben sie auch deshalb immer eine Spur schneller als andere Menschen?

 

Aber vielleicht bekommen sie auch umgekehrt Angst, dass sie einmal zu viel leben könnten? Vielleicht, weil sie befürchten, dass auch sie sodann jenes unergründliche Schicksal ereilen könnte?

Das ist wohl auch der Grund, warum die Mosaikstädter ihr schwer begreifbares Geheimnis für sich bewahren. Es wäre nicht auszudenken, wenn vielleicht gar Fremde, die sich selbst furchtlos wähnen oder sich mit einer Heldentat zu brüsten suchen, dabei die Vollstreckung für Mosaikstadt auslösten.

 

 

 

Zwischen Furcht und Trost

 

 

Heute befindet sich im Burggraben längst kein Wasser mehr und auf der Burgmauer könnte man spazieren gehen, so man wolle. Erhaben steht sie im Sonnenlicht und vor allem Nina findet, dass man der Burg ihr Geheimnis gar nicht anmerkt.

 

Nina ist nicht nur eine der wenigen Städterinnen, die sich dazu bereit erklärt haben, den Gefangenen mit Nahrung zu versorgen. Nina ist die Einzige, die gern hierher kommt.

Viele Stunden ihres Lebens hat sie schon damit zugebracht, nahe dem alten Gemäuer zu verweilen. Allein, versteht sich. Doch anders, als es sonstige Mosaikstädter beschreiben, glaubt Nina, dass ihr die Nähe zur Burg Trost spende.

Wie oft schon hat sie die alten Steine mit den Händen berührt, ihr Gesicht ans grobe Mauerwerk gelegt! Wie oft saß sie schon auf der Mauer und betrachtete nachdenklich die einfache, nahezu laienhaft anmutende Bauweise, als hätte vor allem Eile zur Entstehung der Burg angetrieben. „Gegen welche Feinde mag sie wohl einst als Festung gedient haben?“ fragt sie sich und auch, ob die Bewohner denn auch ausreichend Schutz in ihr gefunden haben mögen.

 

Nina hat keine Furcht, sie könne auf unheimliche Weise in die Burg hineingezogen werden, wenn sie zu lange in ihre dunklen Fenster sähe. Das Licht verändert sich, wenn man hineinsieht, es wird heller und - Nina ist sich sicher - es wird auch wärmer. Ihr ist, als sei stets Wärme in der Burg gespeichert. Wenn Nina von außen auf die groben Steine blickt, dann hat sie den Eindruck, als würde sie mit ihnen eine geheime Zwiesprache halten. Als würden sie

reflektieren, was sie fühlt.

 

Nahezu immer, wenn sie die Burg betritt und durch die uralten, luftigen, doch verlassenen Gänge läuft, verspürt Nina eine unergründliche Sehnsucht, als könne sie ausgerechnet hier ihr wahres zu Hause finden. Ihr dünkt, als sei sie schon, noch bevor sie denken konnte, hier unterwegs gewesen.

 

Dennoch erschauert auch sie, wenn sie sich den Kellergängen zuwendet und erspürt auch sie das Unergründliche, das sie dort jedes Mal beschleicht. Je weiter sie sich die Stufen hinabwagt, desto unheimlicher wird auch ihr, obwohl sie doch schon unzählige Male dort unten war. Gleichwohl findet sich hier etwas ihr Unerklärliches: es zieht sie immer wieder an. Immer wieder neu muss sie sich dieser Herausforderung stellen, die im Grunde nie variiert. Sie steigt langsam nach unten in die Kellergewölbe. Sie vernimmt den dumpf hallenden Klang ihrer Schritte und atmet den unverwechselbaren Geruch des alten Gemäuers. Trotzdem scheint es selbst in den tiefsten Gängen nie kühler zu werden, obwohl kein einziger Sonnenstrahl seinen Weg je hierhin findet.

 

Wie immer geht sie auch heute vorsichtig hinab, bis sie sich tastend dem winzigen Spalt in der Steinmauer nähert, hinter dem es stockdunkel und totenstill bleibt. Nie, niemals würde sie es aber wagen, hier ein Licht zu entzünden. Viel zu groß ist ihre Furcht, den Zorn der...heraufzubeschwören. Der...? Wessen Zorn eigentlich? Nina weiß es nicht. Sie weiß nur, dass nie, nie, nie, wirklich niemals Licht ins Dunkel gebracht werden darf. Sonst................? Das weiß Nina auch nicht. Nur, dass es fürchterlich sein wird.

 

In letzter Zeit empfindet Nina eine seltsame Ruhe, wenn sie vor dem schwarzen Spalt steht. Sie glaubt sogar, es sei um einige Nuancen heller geworden, obwohl dies eigentlich nicht stimmen kann. Doch sie erinnert sich genau, dass sie sich früher bis hierher herantasten musste, um nicht zu stolpern oder auszurutschen. Mittlerweile ist das gar nicht mehr nötig. Wenn sie jetzt hier innehält, breitet sich ein eigenartiges Gefühl inneren Friedens aus, wie sie es nirgends sonst erlebt.

Wie immer beginnt sie sodann über den Gefangenen zu sinnieren, der sich umgekehrt genauso an das alte Verbot hält, nie, nie, niemals einen Kontakt herzustellen.

 

Wer ist er und wer war er früher? Wie hat er gelebt? Und vor allem: wie ist es nur möglich, dass er ohne jeglichen Menschenbezug in diesem Loch sein Leben fristen kann? Kennt er die Menschen überhaupt ausreichend? Oder hat man damals etwa gar ein Kind hier eingesperrt? Bei diesem bedrückenden Gedanken schaudert Nina zurück. Jetzt kommt Bewegung in sie. Als wolle sie das Unheimliche schnell wieder hinter sich lassen, huscht sie die Stufen empor und hat dabei das Gefühl, es verfolge sie. Schnell raus hier!!!

 

Nina atmet erleichtert durch, als sie die bunten Fassaden ihrer Mosaikstadt erblickt. Mit der Stadt vor ihren Augen kann sie sich auch wieder ins Gras oberhalb des Burggrabens fallen lassen.

Die Vorstellung, ein kleines Kind könnte im Verlies eingeschlossen worden sein, jagt ihr kalte Schauer über den Rücken. Sie schüttelt sich. Schüttelt die gruselige

Vorstellung ab.

 

 

Der Plan

 

Nicht nur Nina macht sich ihre Gedanken um das Schicksal des Gefangenen.

Dass es im Verborgenen ihrer ansonsten so rechtschaffenen Stadt jenen unheimlichen Fremden gibt, wirkt auch nicht nur auf die Städter verstörend. Denn gerade jetzt, als Mosaikstadt beginnt, stärker in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit zu rücken, wirkt das dunkle Geheimnis wie ein fauler Fleck unter der sonst so schönen Fassade. Dieses Detail jedenfalls wollen vor allem die Verantwortlichen nicht nach außen zur Schau stellen!

 

Freilich gibt es dazu längst geteilte Meinungen: Während vor allem die älteren Bürger noch immer davon überzeugt sind, ein uralter Fluch könnte sich erfüllen, sehen sich die Jüngeren eher im Stande, eine solche Wahrscheinlichkeit neutraler zu betrachten.

Sie plagen sich eher mit der Vorstellung, dass diese speziellen Details über die Stadtgeschichte gerade nicht für Augen und Ohren neugieriger Gäste bestimmt sein sollten. Sie malen sich aus, wie dies einen Besucherstrom der negativen Art nach sich ziehen würde, Spott und Hohn miteingeschlossen. Zudem fürchten Herr und Frau Bürgermeister, es könne durch den Umstand, dass

Mosaikstädter noch immer an Prophezeiungen glauben, die gesamte Stadt der Lächerlichkeit preisgegeben werden.

Hierfür wollen sie nicht jahrelang gearbeitet und diese bunte Stadt kreiert haben, um durch Bekanntwerden ihres desolaten Innenlebens am Ende wieder dumm dazustehen.

 

„Will man denn überhaupt noch genau wissen, was früher wirklich passierte? Wäre es nicht besser, sich dieses ominösen Phänomens endlich für immer zu entledigen?“ Nicht zum ersten Mal beschäftigen solche Fragen den Gemeinderat.

Im Stillen sind sich Herr und Frau Bürgermeister längst einig: der unheimliche Zeitzeuge soll verschwinden!

Überhaupt wäre er längst seines ihm zugedachten natürlichen Todes gestorben, gäbe es nicht jene selbsternannten „Gutmenschen“, die sich bemüßigt fühlen, ihn zu ernähren. Und das, obwohl ihn in dem dunklen Loch noch niemals jemand wirklich wahrgenommen hat.

Wer weiß denn schon, ob er die Nahrung selbst verzehrt? Vielleicht schleicht auch nur ein Fuchs im Gemäuer umher, der sich nach der Mahlzeit die Schnauze leckt oder ein paar streunende Katzen? Eigentlich kann eine Menschenseele doch unmöglich über Jahrzehnte in einem schwarzen Loch dahinvegetieren!

 

Und überhaupt: wir befinden uns längst nicht mehr im Mittelalter! Wir müssen beginnen, das Problem neutral zu betrachten! Kennt jemand jemanden, bei dem sich je ein Fluch erfüllt hat? Nein, denn bei genauer Betrachtung kristallisieren sich sowohl heute, als auch bei früheren Geschehnissen ganz natürliche Sachverhalte heraus, die Folge nachvollziehbarer Fakten sind.

Also: Jetzt endlich soll Schluss sein mit dem Hokus-Pokus!

Im gesamten Stadtarchiv findet sich keine Spur eines Gesetzes, das besagt, die Stadt solle sich lebenslang um einen Eingekerkerten kümmern, falls ein Solcher überhaupt vorhanden sei. Man könnte ihn praktisch ignorieren. Wer könnte seine Existenz im Nachhinein bezeugen wollen? Wenn wir die Nahrungsgabe einstellten, würde der gesamte Spuk vertrocknen und mitsamt seiner Geschichte zu Staub zerfallen.

 

Nun wird es beschlossene Sache. Am klügsten erscheint es, die Absicht verdeckt umzusetzen.

Der Vorgang soll ohne Aufruhr von statten gehen und vor allem in der Stadt keine weiteren Spaltungen provozieren.

Ohnehin sind es nur ein paar einfältige Spinnerinnen, die sich dem Gefangenen verbunden zu fühlen wähnen. Sie zu überlisten müsste doch leichtes Spiel sein!

 

Der Plan des Bürgermeisterpaares ist nun, diese Frauen mit attraktiven Verheißungen schlicht und einfach aus der Stadt herauszulocken und dann dafür Sorge zu tragen, dass sie abgelenkt bleiben und am Besten gar nicht mehr zurückkehren wollen. „Das sind doch solche Frauen, die sich bloß in ihrem Leben zu kurz gekommen fühlen“ lacht Herr Bürgermeister abfällig, „daher suchen sie das Schwächste zu umsorgen, damit sie sich wenigstens ihm gegenüber in einer besseren Position erleben! Es dürfte leicht sein, sie zu verführen: ein bisschen Aufregung in die Tristesse, eine Prise Wertschätzung dazu und ein Hauch Macht bei Aufgaben, die nur auf sie gemünzt werden müssen. Haha....und bis sie merken, dass sie auf dem Holzweg sind, ist die Kreatur längst entseelt....“

Gesagt, getan. Herr Bürgermeister kontaktiert seine Mittelsmänner, damit sie ihre Fallen stellen. Der Plan beginnt zu funktionieren. Das Frauengrüppchen löst sich sogar leichter auf als erhofft.

Zufrieden reiben sich Herr und Frau Bürgermeister bereits ihre Hände. Das geht ja besser als gedacht!

 

Große Pläne beginnen nun für Mosaikstadt! 

 

 

Widerstand

 

Einige Wochen gehen ins Land. Mit jedem neuen Morgen blickt das Bürgenmeisterpaar als Erstes hinauf zur Burg und hofft darauf, dass alle  dunklen Wolken dort sich in Luft aufgelöst und einem allgemeinen Wohlgefallen Platz gemacht haben. Aber das Phänomen verliert sich nicht. Mit jeder Faser spüren sie es weiterhin. Im Gegenteil. Der Druck scheint sich noch zu verstärken, je intensiver sie sich dagegen wehren. „Das gibt es doch nicht!“, schimpfen sie: „Lebt die Kreatur etwa immer noch? Was ist da los?“

 

Irgendetwas stimmt da nicht. Der Gefangene mag vielleicht tatsächlich zäh sein. Aber dass jemand wochenlang völlig ohne Nahrung weiterleben kann, ist ein Rätsel. Es muss also noch immer irgendeine Verbindung geben! Bloß welche?

 

Bei genauerer Beobachtung stellt sich nun heraus, dass es nach wie vor drei Frauen gibt, die sich unermüdlich abwechseln, den Gefangenen mit dem Nötigsten zu versorgen. Das ist eine Frechheit! Das ist Meuterei!


Was sind das für Leute, die meinen, sich für dieses Geschöpf, das bislang nur für Unruhe gesorgt hat, überhaupt  einsetzen zu müssen? 

 

Nicht fair sei es, einen Menschen, wer auch immer er sei, einfach verhungern zu lassen, muss das Bürgermeisterpaar nun deren Credo vernehmen. Will man sich nicht rühmen, eine moderne Stadt zu sein? Geht man dann auf diese Weise mit Minderheiten um?


Oh, es kommen jetzt also die Oppositionellen  aus ihren

Löchern!

Wehret den Anfängen! 

 

Herr und Frau Bürgermeister beschließen, jetzt doch noch drastische Maßnahmen zu ergreifen, damit das kleine Grüppchen erst gar keinen Auftrieb erhält und vielleicht sogar noch zu einem Bürgeraufstand aufrührt. 


Mit sofortiger Gültigkeit erlassen sie ein offizielles Verbot:

Ab sofort steht unter Strafe, sich der Burg zu nähern. 


Jetzt wird es eng für den Gefangenen! Soll er sein Geheimnis doch mit in seine Gruft nehmen! 

Eine der letzten Mutigen, die sich zu widersetzen wagen, ist Nina. In ihr rebelliert es heftig: Was ist das für ein scheinheiliger Lösungsversuch des Stadtrats, den Zugang zur Burg zu sperren - also den Gefangenen auch vom letzten Lebensquell abschneiden!

Hier scheint der Wandel der Zeit wohl an allem Edlen vorübergegangen zu sein! Nein, sie wird sich für ihn einsetzen! Um jeden Preis!! Sie fühlt einfach, dass es richtig ist. 


Freilich ist es neu für Nina, für etwas das sie für richtig hält, auch Partei zu ergreifen. ‚„Eigentlich“ überlegt sie, „könnte ich meine Absicht auch öffentlich kundtun. Ich habe eine Stimme, ich könnte auf Erfüllung der Grundrechte des Gefangenen Anspruch erheben.

Vielleicht könnte ich mich durchsetzen? Spätestens würden sie kuschen, sobald ich das Geschehen öffentlich mache...“ 


Aber es ist völlig neu für Nina, sich auf diese Weise, sei es auch nur gedanklich, aus der Menge hervorzuheben. Ihre kühnen Gedanken fliegen höher als Nina es sich zutraut. Letztlich schleicht sie sich, als es völlig dunkel ist (und sie alle Bürger vor dem Fernseher wähnt), auf ihren verbotenen Weg.

Sie trägt ein Tablett mit Speise, als sie endlich schnellen Schrittes über die vertraute Burgmauer huscht.

 

„Habe ich dich endlich erwischt, du Luder!“ schreit es urplötzlich los und aus dem Gebüsch hinter dem Burggraben stürmt Herr Bürgermeister selbst.

Ohne Vorwarnung zielt er mit einer Pistole auf Nina und drückt ab!

Hilflos reißt diese ihr Tablett hoch, als könne sie es als notdürftiges Schutzschild benutzen – und im nächsten Augenblick erleichtertes Durchatmen: der Schuss ging daneben.

Dieser Schuss! Und der nächste? Ob das Tablett ausreicht?


Nina kommt nicht mehr zum Nachdenken. Laut schreiend, mit tiefer, animalischer Stimme, taucht plötzlich auch Frau Bürgermeister aus der linken Flanke der Büsche auf. Sie schwingt eine Axt, scheint völlig außer sich und offensichtlich wild entschlossen, Nina zu töten. 


Nina erstarrt. Abrupt fühlt sie sich in die Steinzeit zurückversetzt! Wie ist das möglich? Sie fühlt eine tiefe Erschütterung, aber sie steht aufrecht.

Urplötzlich findet sie sich zwei Angreifern in mörderischer Absicht gegenüber! Schlägt heute Nacht ihre letzte Stunde? Jetzt wird es auch für Nina eng! 

Nein, eine winzige Chance, ein winzig kleines Fünkchen Hoffnung gibt es noch: Es befindet sich noch immer der Burggraben zwischen ihnen. Ninas Gedanken rasen. Sie selbst kann nicht mehr weichen. Doch in ihrer blinden Wut könnte es geschehen, dass wenigstens ein Feind in den Burggraben stolpern und sich dabei (hoffentlich, hoffentlich!!) selbst verletzen möge! Die Gefühle überschlagen sich.

 

Es muss einfach passieren! Mit aller ihrer zur Verfügung stehenden Gedankenenergie konzentriert sich Nina.

Und da geschieht es: Herr Bürgermeister prescht auf sie zu, zielt erneut, stolpert und...stürzt tatsächlich. Der Burggraben ist tief. Tief genug! Nina hört es zweimal krachen, ein weiterer Schuss und gleich darauf Herrn Bürgermeisters Knochen, als er aufschlägt. Tot ist er nicht, er schreit um Hilfe. Ruft, er habe sich in den Kopf geschossen! 
Das Maß scheint auch endgültig voll zu sein für Frau Bürgermeister: überschäumend und kochend vor Wut, die Axt schwingend, stürmt auch sie auf Nina zu, um zu vollenden, wonach sie trachtet. Nina spürt, wie die unverhohlene Wut dieser Person sie selbst im Innersten erschüttert. Sie wankt.

Doch sie steht, stellt sich, konzentriert sich erneut...und tatsächlich! Es geschieht wieder! Frau Bürgermeister stolpert! Sie fällt in die Tiefe, rudert mit der Axt. Wieder hört Nina es krachen. Tot ist auch sie nicht, auch sie schreit, sie habe sich die Axt in den Kopf geschlagen! Hilfe, Hilfe! Helft mir!


Für Nina wird es unerträglich. Das Geschehen, die markerschütternden Schreie überfordern sie. Ihre eigenen Gedanken jagen sich. Sie versteht nicht wirklich, was hier geschieht. Das Bürgermeisterpaar, das für alle Leute in der Stadt Vorbild sein wollte und eigentlich für ihr Wohlergehen sorgen müsste –  jetzt ein Mörderpaar? 

 

Oder war es ein Unfall? Ist das die ausgleichende Gerechtigkeit? Oder ist sie jetzt selbst eine Mörderin? Waren es ihre, Ninas, Gedanken, die beide in den Graben fallen ließen? Muss sie sich jetzt für den Tod der Oberhäupter verantworten?

Sie hält es nicht mehr aus. 

 

Nina rennt. Lässt alles stehen und liegen und rennt und rennt. Noch weit entfernt hört sie die anklagenden Schreie der Sterbenden. Nina hetzt durch die gesamte Stadt und versteckt sich am alleräußersten Ende. Kauert sich in die hinterste Ecke und hält sich mit beiden Händen fest die Ohren zu. 

 

 

Licht im Dunkel

Der Gefangene wartete in dieser Nacht umsonst. 

Am nächsten Tag bleibt alles erstaunlich ruhig in der Stadt. Auch in der nächsten Woche geschieht nichts.  Woche für Woche vergeht und alles bleibt still. 

Merkwürdigerweise fragt auch niemand nach dem Bürgermeisterpaar.

Sie sind und bleiben verschwunden. 

Mit jeder Woche, die sie nicht zurückkehren, gewinnt Nina an Sicherheit, dass sie tot sein müssen.

 

Umso mehr drängt sich ihr die Frage auf, weshalb der Gefangene so brachial-mörderische Wächter braucht? Warum soll er wirklich um jeden Preis vernichtet werden? Ist er am Ende gar unschuldig oder vielleicht Zeuge einer gräulichen Tat anderer Menschen?

 

Ein Gefühl des Unheimlichen beschleicht sie ein Mal mehr bei solcher Überlegung, so dass sie letztlich doch davor zurückschreckt, der Wahrheit auf den Grund zu gehen und den Mantel des Vergessens zu lüften.  Dann wieder meint sie, sie sei längst stark genug, auch das abscheulichste Geheimnis zu ertragen, um doch erneut zu erschauern und Erleichterung in dem Gedanken zu finden, dass man auch einfach alles so lassen könne, wie es ist.

 

Gleichzeitig fühlt sich Nina gerade jetzt wie nie zur Burg und deren Geheimnis hingezogen stark hingezogen. 
In der Stadt selbst bleibt es weiterhin still.  Vor allem um die Burg herum ist es erstaunlich friedlich geworden. Sie hat sich verändert. Im versöhnlichen Sonnenlicht wächst hellgrünes Gras über das, was am Burggraben geschah.  

Nina genießt das Sonnenlicht. Ohne Hindernisse kann sie seither die Burgmauer passieren und ohne irgendeine Hürde bis zum Verlies hinab gelangen. Jetzt fällt es ihr auch auf: Es ist noch heller geworden in dem alten Gemäuer! 


Wie das? Reichen neuerdings die Sonnenstrahlen bis in den Keller hinein? Und warum taten sie das nicht früher schon? Ganz genau erinnert Nina, dass dem sicher nicht so war. Stockdunkel war es vielmehr.


Und bildet Nina es sich nur ein oder stimmt es wirklich, dass der Spalt, die Verbindung zum Gefangenen, größer geworden ist? 

Eines solchen Tages fällt ihr auf, dass sie vage Umrisse aus dem Inneren des Kerkers wahrnehmen kann. Wenn es sie nicht täuscht, dann wirkt es allerdings so, als wäre der Raum ziemlich leer!

 

Aber es muss ja etwas da sein! Sie kann es fühlen. Ja – da ist auch etwas....in der Mitte des Raumes sitzt etwas.

 

Doch es ist klein! 
Sehr klein!!!! 

Nina versteht nicht. Wozu der ganze Aufwand für

etwas so Kleines?! 

Was macht das für einen Sinn? Und vor allem, was mag denn daran so bedrückend sein, dass wir alle nichts damit zu tun haben wollen? Merkwürdig...

 

Nina hält inne und wartet, ob das Bild noch deutlicher wird. Wischt sich die Augen. Das Bild bleibt und schaut harmlos aus.

 

Bei den nächsten Besuchen springt Nina immer öfter und selbstverständlicher die Stufen ins Verlies hinab. Jetzt weiß sie ja schon, was sie dort findet. Ihr dünkt, als würde es auch weiterhin mit jedem Tag freundlicher dort. Allein das Bild, das sich ihr darbietet, bleibt unverändert. Ein völlig leerer Raum mit etwas in der Mitte.


Eines Tages ist es hell genug und Nina kann nun alles sehen. In der Mitte, auf dem Boden sitzt etwas. Es sitzt einfach nur da. Sonst nichts.

 

ES.

 

Was ist es? Es ist kein Tier. Es ist kein Ding. Es ist kein Mensch.

 

ES.

Es ist nicht nur sehr klein, sondern winzig. Nur ein Hauch von etwas. 

Das Verlies lässt sich plötzlich auch ohne Weiteres öffnen. Bisher war es Nina nicht einmal bewusst, dass es eine Tür hierfür gibt.

 

Sie schwingt wie selbstverständlich auf, und als Nina den Raum betritt, scheint ihr, als sei sie schon irgendwann einmal hier gewesen. Auf eindrückliche Weise ist ihr dieser Ort vertraut. Ein paar Schritte braucht sie nur, dann kann sie neben dem Etwas in die Hocke gehen. Still betrachtet sie es.   

 

 

 

Die Vereinigung

 

 

Es lebt.

Das fühlt Nina. 

Nach einer langen Zeit berührt sie es vorsichtig mit den Fingerspitzen. 
Hauchzart fühlt es sich an. Und warm.  Es ist filigran. Durchscheinend. Doch scheint es alles zu enthalten, was es brauchte, um diese lange Zeit zu überstehen! 

 

Nina spürt noch etwas. Sie spürt Kraft, die von ihm ausgeht. Unter ihrer Hand beginnt es zu schimmern wie etwas Kostbares.

Sehr lange verweilt Nina auf diese Weise, es nur betrachtend, spürend, in sich aufnehmend, seine Existenz auf sich wirken lassend. Dann endlich umfasst sie es mit beiden Händen und hebt es vorsichtig vom

Boden auf. „Wer bist du?“ haucht sie endlich die Frage aller Fragen. 

„Ich bin dein Ich“, klingt es zurück. 


„Mein Ich?“ fragt Nina verblüfft, „Wie kannst du denn ich

sein?“ 

„Ich bin nicht du, sondern dein Ich.“ erwidert es. 


Das versteht Nina nicht. Vielleicht kann sie es aber

ergründen.

Sie fragt weiter:


„Wenn du mein Ich bist, wie bist du hierher in dieses Verlies gelangt? Was hast du denn angestellt, Ich?“ 

„Nichts.....“, flüstert das Ich. 
„Nichts? Und warum wurdest du dann eingesperrt?“ 

„Oh. Das ist wohl aus Versehen passiert.“ 

„Aus Versehen?! Wie ist das möglich? Oder hat man dir et-was angetan?“
„Nein!! Zum Glück nicht! Aber wenn du jetzt Zeit für mich hast, Nina, dann erzähle ich dir, wie alles wirklich war.“ 
  

Nina ließ sich im Schneidersitz auf dem Kerkerboden nieder, hob das Ich auf ihren Schoß, hielt es mit ihren Händen umfangen, bereit zu hören, was es ihr berichten wollte. 


Es schien, als habe das Ich all die Jahre und Jahrzehnte nur auf diesen speziellen Moment gewartet. Es schmiegte sich in Ninas Hände, konzentrierte sich und begann zu schildern, was in einer Zeit geschah, als Nina noch so klein war, dass sie sich absolut nicht mehr daran erinnern konnte.

 
„Wir beide sind eigentlich Eins“, begann das Ich und Nina staunte.

„Wir sind als Eins zur Welt gekommen und ursprünglich war es so gedacht, dass wir uns einstimmig weiterentwickeln, zusammen reifen, miteinander die Umgebung erkunden und schließlich zusammen er- wachsen werden und gemeinsam in der Welt leben.

Eigentlich war ich dafür bestimmt, dir zu helfen, dich in der Welt zurechtzufinden, damit du dich gut auskennst und fühlst, was gut für dich ist. Ich bin dein Kern, in dem alle Informationen für ein gutes Leben hätten gespeichert werden können, die dich sicher, stark, vertrauensvoll und mutig machen.

Aber selbst das ist nicht alles, ich kann noch mehr: Mit mir und durch mich kannst du Liebe fühlen!“

 
Nina sitzt ganz still. Sie spürt genau, jedes dieser Worte ist wahr. Tränen beginnen in ihren Augen zu

schimmern. „Und wie geht es weiter?“ fragt sie nur, als das Ich schweigt.

 
„All das hat nicht zu Stande kommen dürfen. Anstelle dass du nach und nach aus all meinen Fähigkeiten hättest schöpfen können, musstest du mich

beschützen!“

 
„Ich?“ Ninas Augen wurden ganz groß. „Aber wie denn? Ich war ja auch noch ganz klein?“

 „Höre nur weiter zu: leider muss ich, wie jedes Ich, zuerst reifen um alle meine Kräfte entfalten zu können. Um dafür fähig zu werden, hätte ich all das Gute zuallererst von außen in mir gespeichert bekommen müssen. Deshalb bin ich zu Beginn ja auch so weich und biegsam, damit ich durchdrungen und erfüllt werden kann! Werde ich behütet, dann lerne ich, dich später so zu behüten, damit du ein freies, kraftvolles und glückliches Leben führen wirst.“

Das Ich macht eine Pause. Nina sitzt schweigend. Salzige Tränen rollen jetzt ihre Wangen hinunter, eine nach der anderen und fallen in das Ich.

 
Es spricht weiter:

„Leider bin ich, weil ich anfänglich noch so sehr formbar bin, auch Gefahren ausgesetzt. Wir beide, liebe Nina, sind im Hause Bürgermeister auf die Welt gekommen. Du weißt ja selbst, wie Herr und Frau Bürgermeister waren!

Ich denke, die beiden hatten es selbst sehr schwer und waren dabei nicht so stark wie du. Aber es macht vielleicht verständlich, warum sie uns beide nicht behüten und umsorgen konnten.

 
Jetzt aber kommst du ins Spiel, meine liebe Nina! Dass du mich heute in dieser ursprünglichen Weise vorfinden kannst, habe ich ganz allein dir zu verdanken! Das nämlich ist die Voraussetzung, damit es für uns Beide noch ein glückliches Finale gibt!“

 

„Wie das? Erzähl, was habe ich getan damals?“

 

„Wir beide waren gerade dabei, unser erstes Zusammen-

spiel auszuprobieren, als urplötzlich menschliche Unwetter über uns niedergingen! Diese Unwetter waren weitaus stärker, als wir aushalten konnten.


Vielleicht hätten wir einem Einzigen standgehalten, aber es folgte Eines auf’s Andere. Mit jedem Mal spürte ich nicht nur die Erschütterung, die geradezu durch dich hindurchfloss bis in mich hinein, sondern es gingen Risse durch dich. In einem allerletzten Reflex zog ich mich eng zusammen und versuchte mich unberührbar zu machen. Nun aber hattest du keine Resonanz mehr, sondern musstest selbst meinen Schutz bilden. Das war zu viel für dich und du zersprangst in viele kleine Mosaikteile. Es sind jene Teile, aus denen du später unsere schöne Mosaikstadt erschaffen hast.“

 
Nina ist sprachlos.

 
„Wäre auch ich beschädigt worden“, sprach das Ich weiter, „hättest du niemals leben können, wie du es letztlich doch noch geschafft hast – und zwar fast ohne mich. Um mich zu schützen, hast du beschlossen, auf mich zu verzichten!“

Jetzt weint Nina. Um das verlorene Ich und um ihren eigenen Verzicht. Wie Perlen tauchen Ninas Tränen in das Ich, wo sie schimmernd zu reflektieren beginnen. 


„Keiner konnte es verhindern“, erinnert sich das Ich weiter. „DU bist diejenige, die die Burg errichtet hat, in deren ‚Verlies’ ich bis heute auf dich gewartet habe!“

 

„ICH habe auch die Burg erschaffen?“

 
„Ja! Stein um Stein hast du gesetzt, dicke Mauern wurden es und zu meinem Schutz hast du kaum einen Durchgang in mein kleines Kämmerlein gelassen! Der Beschuss war sehr heftig! Gerade weil sie es spürten, dass sie mich, dein Innerstes, nicht treffen konnten. Da wüteten sie noch heftiger gegen dich. Doch statt mich zu vernichten ist der tiefe Burggraben entstanden. Jahrelang war er übrigens mit ungeweinten Tränen gefüllt! Erst im Laufe der Jahre sind sie versiegt.“


Nina krümmt sich zusammen. Nachträglich fühlt sie den Schmerz, die einstige Not. Gleichzeitig überrascht sie auch ihre eigene Stärke. Zart und warm schmiegt sie jetzt ihre Hände um das Ich.

 
„Ich erinnere mich nicht daran, dass wir einmal ein Ganzes waren. Ich muss vergessen haben, dass wir zusammengehören“, sinniert sie, als sie versucht, in ihr frühestes Erleben hineinzuspüren. 

„Ich habe dich im Verlies ‚vergessen’! Deshalb bist du im Verlies verblieben. Das also meinst du mit ‚Versehen’! Und doch habe ich ja so viele Jahre Nahrung zu dir gebracht, ich wusste nur, dass dort ein Gefangener ist! Jetzt verstehe ich! Und ja, ich habe dich gesucht! Überall, in der ganzen Stadt! Aber ich wusste nicht von dir. Ich habe ‚etwas’ gesucht – etwas, das mir fehlt.“

 

„Ja, die wenige Zeit hat ausgereicht, um dich wissen zu lassen, das wir zusammengehören. Dies ist die sanfte Seite des Schicksals. Wer sein Ich verloren hat, muss danach suchen. Unermüdlich. Manche suchen ein Leben lang überall und immer wieder. Manche finden es nie. Andere geben auf und resignieren. Wieder andere schrecken vor den Wächtern zurück, die einst aufgestellt wurden. Oder aber sie kämpfen sich frei, so wie du. Und befreien ihr Ich endlich dort, wo es ist: in ihrem eigenen Inneren.“

 

Jetzt lächelt Nina unter Tränen. Was für ein langer Weg war das!

 
„Aber ich habe gespürt, dass meine Zeit immer näher rückt!“ Das Ich regt sich in Ninas Händen, ihre vielen Tränen lassen es schimmern wie einen tiefblauen See. „Mehr und mehr durchlässig sind die dicken Mauern geworden, und mehr und mehr ist die Verbindung zwischen uns wieder angewachsen. Immer stärker hast du dich zu mir hingezogen gefühlt! Und je durchlässiger die Mauern wurden und je größer deine Sehnsucht nach mir, umso mehr Kraft konnte ich aus meinem Kämmerlein heraus zu dir durchdringen lassen! Bis zu dem Abend, als du so stark wurdest, dich den Verfolgern deiner Vergangenheit zu stellen!“

 
Ganz lebhaft ist das Ich geworden. Jetzt leuchtet es rot vor Freude.

 
„Eine stolze Burgherrin bist du gewesen! Hast deine Sache gut gemacht!

Jetzt brauchen wir keine Burgmauern mehr. Die alten Feinde sind weg. Große und kleine Risse heilen. Gras wird über die alten Wunden wachsen und alles wieder zu einem Ganzen verbinden. Wir werden wieder Eins sein! Lass mir Zeit zum Nachreifen, ich muss viel

aufholen. Und wenn ich erst erwachsen bin, wirst du mit mir und durch mich auch fühlen, was Liebe ist!“

 
Innig hält Nina das jetzt funkelnde Ich an ihr Herz gedrückt. Ja, ja, ja, ruft es in ihr.

Sie hebt das Ich hoch und schmiegt ihr tränennasses Gesicht an es. Im gleichen Moment fallen Sonnenstrahlen auf das Ich und lassen es in einem kräftigen Goldgelb

erstrahlen.

 
Nina merkt gar nicht, wie das Ich an ihrer Wange trotz intensiver Leuchtkraft immer durchscheinender wird. Sein Schein überträgt sich auf Ninas Gesicht. Das Ich beginnt in allen Farben zu schillern, die sich nach und nach in Nina hinein zu verlagern scheinen. Zuletzt glitzern nur mehr einige wenige Lichtpunkte, dann sind auch sie in ihr verschwunden. 


Stattdessen strahlen jetzt Ninas Augen, ihre Wangen glühen rot und der Mund formt wie von selbst ein liebevolles Lächeln. Nina spürt, wie das Ich ihren Kopf erwärmt und in das Innere ihres Körpers strömt. Überall fühlt sie sich ausbreitende Wärme. Sie fließt durch ihren Hals, den Schultern, breitet sich aus in ihrer Brust, dem Bauch, dem Schoß, dem Po und dem Rücken. Sie gelangt in Ninas Arme und Hände bis in ihre Fingerspitzen und findet den Weg in ihre Beine, Füße, bis in die Zehen hinein. Ja, ihr ist, als würde das warme Licht auch alle ihre inneren Organe umspülen und sich schließlich in ihrer Körpermitte zentrieren, weil es dort seinen

ursprünglichen Platz wiedergefunden hat.

 

Oh ja! Nina kennt diesen Platz. Es ist jener, an

welchem noch bis eben die Burg mit ihren dicken Mauern stand.

 
Die Burg? Nina blickt sich um.

Sie steht im sanften Sonnenlicht.

Die Burg hat sich aufgelöst im selben Moment, als das Ich in Nina hinabgesunken ist.

 
Es ist ganz ruhig in Nina und es ist ruhig in der Stadt. Einige wenige Städter schweben noch durch die

 

 

 

verblassenden Straßen. Ihrer aller Auftrag ist erfüllt. Jetzt endlich ist Nina wieder in sich selbst zu Hause.


Praxis für Tiefenpsychologie                                                               

Angelika Colditz

Lohengrinstraße 3

95445 Bayreuth

 

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